Projektbeschreibung
Deutschland hat in seiner Geschichte umfangreiche Zu- und Abwanderungsbewegungen erlebt und wird auch in Zukunft vermutlich damit konfrontiert werden. Die Unterrichtseinheit „Einwanderungsland Deutschland?!“ wurde in den Fächern Geschichte und Wirtschaft/Recht für zwei elfte Klassen unter der Leitung von Tina Bergen (Geschichte) und Marc Brückner (Wirtschaft/Recht) durchgeführt. Ziel war es, historische Migrationsbewegungen und deren Folgen für die aktuelle Bevölkerung sowie die Zukunft der EU zu untersuchen. Über einen Zeitraum von zehn Wochen arbeiteten die Schülerinnen und Schüler (SuS) in Gruppen an selbstgewählten historischen Migrationsbewegungen. Zur Wahl standen exemplarisch die Arbeitsmigration in der BRD zwischen 1950-1970, die Einwanderung von Spätaussiedlern um 1985-1995 sowie Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge seit den 1990er Jahren. Die SuS analysierten Ursachen, Verlauf und Auswirkungen der Migrationen und erarbeiteten Prognosen für zukünftige Herausforderungen für Deutschland.
Die Leistungsnachweise erfolgten in Form eines Kurz-Pecha-Kucha-Vortrags (eine Präsentationstechnik, bei der zehn Bilder (Folien) jeweils 15 Sekunden eingeblendet werden, begleitet durch einen mündlichen Vortrag, der die festgelegte Gesamtzeit von 2:30 Minuten nicht überschreitet) sowie der Wahl zwischen einem ZeitzeugenInterview als Podcast, einem Hörspiel oder Brettspiel. Begleitet wurde das Projekt durch methodische Schulungen, eigenverantwortliche Gruppenarbeit und regelmäßige Evaluationen in Form von Eigen- und Gruppenbewertungen.
Die Arbeit in der Unterrichtseinheit erstreckte sich über mehrere Etappen:
Etappe 1: Planung und Einführung
Vorbereitung der SuS auf das Projekt und Vermittlung von Grundlagen
- Getrennter Fachunterricht in Geschichte und Wirtschaft/Recht
- „Herzstück“ der Stunde: Thematische Schnittpunkte (z.B. Kartenarbeit zur Migrationskarte)
- Schwerpunkt: Vorbereitung der Methodenarbeit (z.B. durch Auswertung von Quellen, Zeitzeugenaussagen, Grafiken)
- Vorstellung des Projektablaufs, der Bewertungskriterien und Gruppenfindung


Etappe 2: Fachliche Grundlagen und Methoden
- Erarbeitung von historischem und wirtschaftsrechtlichem Wissen
- Vermittlung von Wissen zu: historischen Migrationsbewegungen, wirtschaftlichen und rechtlichen Herausforderungen, Zukunftsprognosen für die EU und Deutschland
- Praktische Übungen: Analyse von Fallstudien, Diskussion über aktuelle Migrationsentwicklungen
Etappe 3: Projektarbeit in Gruppen (6 Wochen)
- Eigenständige Bearbeitung des Projekts
- Kontinuierliche Bewertung mithilfe von Bewertungsbögen
- Lehrkräftefeedback in individuellen Gesprächen

Etappe 4: Präsentation der Schülerprodukte und Evaluation
- Ausstellung der Produkte in der Bibliothek und am Schulfest
- Abschluss- und Feedbackrunde im Plenum

Das Besondere
Das Projekt zeichnet sich durch seinen fächerübergreifenden Ansatz aus, der die Unterrichtsfächer Geschichte und Wirtschaft/Recht thematisch verbindet. Die Überschneidung im Lehrplan wurde auch in der Erstellung des Stundenplans der beiden beteiligten Klassen berücksichtigt, sodass die Bündelung einzelner Fachstunden ein intensiveres Arbeiten begünstigte. Dies ermöglichte den SuS, sich nicht nur Fachwissen selbstständig anzueignen, sondern durch die strukturierte Gruppenarbeit auch ihre Selbst- und Sozialkompetenzen weiterzuentwickeln. Dazu beigetragen haben eine positive Fehlerkultur, das Verstärken von Erfolgen und die Offenheit der Lehrkräfte. Zuträglich waren ebenso die durch die Schule bereitgestellte Infrastruktur und Ausstattung (z.B. iPads, Bibliothek).
Besonders innovativ war die Wahlfreiheit bei den Prüfungsformaten (Zeitzeugeninterview als Podcast, Hörspiel oder Brettspiel) sowie die Integration von kontinuierlichem Feedback durch Bewertungsbögen und Meilensteine. Zudem wurden durch den thematischen Bezug zur aktuellen Flüchtlingssituation reale Lebenswelten der SuS (u.a. Ukrainekrieg, Nahostkonflikt insb. Syrien, Sylt-Skandal) einbezogen und ein nachhaltiges Lernen gefördert. Die offene Unterrichtsgestaltung und die Möglichkeit zur eigenständigen Gruppenorganisation förderten Motivation, Verantwortungsbewusstsein und Teamarbeit.
Erfahrungen und Ergebnisse
Die SuS empfanden die intensive Arbeitsphase als herausfordernd, jedoch sehr lehrreich. Sie entwickelten eine tiefgehende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema Migration und konnten Transferleistungen zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen herstellen. Das Projekt führte zu einer gesteigerten Konzentrationsfähigkeit, Eigenverantwortung und strukturierten Arbeitsweise. Besonders die Gruppen- und Selbstbewertung fiel den SuS anfangs schwer, wurde aber als wertvolle Erfahrung wahrgenommen.
Die abschließende Evaluation zeigte, dass die SuS stolz auf ihre erstellten und an Schulfest und in der Bibliothek ausgestellten Produkte waren und ein nachhaltiges Verständnis für das Thema erlangt haben. Die Lehrkräfte konnten eine verbesserte Reflexionsfähigkeit und methodische Kompetenz der SuS feststellen, was diese sowohl auf eine akademische als auch berufliche Zukunft vorbereitet hat.
Vor dem Hintergrund der derzeitigen Debatte z.B. um den Begriff der „Remigration“ bzw. die Zwangsabschiebungen von Flüchtlingen erfuhren die SuS, was es heißt, sich auf die Flucht zu begeben und die Perspektive zu wechseln. Durch die intensive und reflektierte Auseinandersetzung mit aktuellen Fällen zogen sie wertvolle Schlüsse für ihr eigenes Handeln in der Gesellschaft. In besonderem Maße hervorzuheben ist an dieser Stelle die Bewusstseinsbildung bei den SuS über die Auswirkungen von Migration auf die Gesellschaft und unsere Demokratie – heute und in Zukunft.
Aus den Gutachten
„Das Unterrichtsprojekt stellt sich dem Problem des „Bulimielernens“, indem es die Schülerinnen und Schüler motiviert, sich selbst Faktenwissen zu erarbeiten und seine Bedeutung in verschiedenen Kontexten zu reflektieren. Die Mischung aus selbstorganisiertem Lernen, Stationenlernen und Transfer kombiniert mit Eigenund Fremdevaluation ermöglicht den Schülern eine geradezu ganzheitliche Unterrichtserfahrung, ansprechend sind zudem die Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Diagnose des Fortschritts. Der Aufbau des Unterrichts ist gut durchdacht und die kriterienorientierte Darstellung des Unterrichts ist sehr ansprechend.“
„Der Unterricht stellt sich erfolgreich einem in Schulalltag häufig anzutreffenden Phänomen, dass nämlich Gelerntes nicht ‚hängenbleibt‘. So setzt der Unterricht auf ‚selbst machen‘ statt ‚berieselt werden‘.“
„Die Aktualität des Themas Migration ist riesengroß und somit entspricht dieser Unterricht dem großen Wunsch der Gesellschaft, in den Schulen dieses Thema entsprechend aufzuarbeiten. Dies ist hier gut gelungen. Der Vergleich verschiedener Migrationsperioden trägt dazu sicher zu einem tieferen Verständnis bei.“