Preisträger

Unterricht innovativ
2023
1. Preis

„Gegen das Vergessen. Stolpersteine und Erinnerungskultur“

Johannes Heitmann mit Alena Bauer

Foto-Credit: Heraeus Bildungsstiftung

Projektbeschreibung

90 Jahre ist es her, dass jüdische Mitbürger ihren Heimatort St. Blasien verlassen mussten. Ein Seminarkurs des Kollegs St. Blasien beschäftigte sich ein Jahr lang mit ihnen und ihren individuellen Geschichten. Dabei gelang es den Schülerinnen und Schülern (SuS) unter der Leitung von Johannes Heitmann und Alena Bauer über verschiedene Zugänge und Methoden die Schicksale der vom NS-Regime verfolgten Menschen zu rekonstruieren, sie multimedial und öffentlichkeitswirksam erfahrbar zu machen, sie auf innovative Art und Weise in das kulturelle Gedächtnis einzuschreiben und einen außerordentlichen Beitrag für die örtliche Erinnerungskultur zu leisten.

Mit den Stolpersteinen im Ort, der Ausstellung im Kreismuseum, dem digitalen Gedenkbuch der Stadt, ihren Publikationen und der lokalen Berichterstattung stellten sie die Erinnerten in den erinnerungskulturellen Fokus und würdigten die Verfolgten und deren Angehörige. Sie dokumentierten damit jedoch auch ihre gemeinsamen Recherchen – das Wälzen unzähliger Akten, den Besuch von Archiven in St. Blasien und Waldshut, die zahlreichen Kontaktaufnahmen, Gespräche und Video-Interviews mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie deren Nachfahren – aber auch die vielen Begegnungen und Interaktionen mit politischen und kulturellen Akteurinnen und Akteuren wie selbstinitiierte Vernetzungstreffen mit dem Landrat, dem Bürgermeisteramt und dem ansässigen Kulturamt. Die SuS scheuten sich nicht, unkonventionelle Wege zu gehen – so bauten sie sich mithilfe der Lehrkräfte ein enggesponnenes Netzwerk an Kooperationspartnern auf, kultivierten zielgerichtet die Beziehungen zu wichtigen Interessengruppen und nutzten für die Präsentation und Dokumentation ihrer Forschungsergebnisse digitale Tools und Darstellungsformen. Gemeinsames Ziel war es, im Sinne eines handlungsorientierten Unterrichts das Erinnern möglichst dezentral, partizipativ, vielfältig und inklusiv zu gestalten – das Projekt sollte in seiner Wirkung überregional ausstrahlen und die Bedürfnisse möglichst vieler Stakeholder integrieren.

Die Arbeit im Kurs erstreckte sich über mehrere Etappen:

1. Theorie

  • „Warum erinnern wir? Wie erinnern wir?“ – theoretische Annäherung an das Thema Erinnerungskultur (Konzept des „Kollektiven Gedächtnisses“)
  • Aufstellen von Grundsätzen, zum Beispiel:
    a) zeitgemäße Kategorien des Erinnerns: „Verantwortung“ statt „Ehre und Schande“ (nach Assmann)
    b) die Erinnerten stehen im Fokus, nicht die Erinnernden
    c) zeitgemäßes Erinnern ist zugänglich, offen, partizipativ und sensibel
    d) keine Reproduktion entschuldigender oder antisemitischer Narrative usw.
Seminareinheit „Zeitgemäßes Erinnern“
Seminareinheit „Zeitgemäßes Erinnern“
SuS-Produkt zum „Kollektiven Gedächtnis“
SuS-Produkt zum „Kollektiven Gedächtnis“

2. Recherche und Präsentation

  • Aneignung von Grundlagen der Quellenarbeit (innere/äußere Quellenkritik, Multiperspektivität etc.)
  • Sichtung/Ordnung/Digitalisierung/Katalogisierung/Auswertung von Archivalien, Schrift- und Bildquellen
  • persönlicher Austausch und Video-Interviews mit Angehörigen der Verfolgten
  • PPT-Präsentation der Rechercheergebnisse vor Bürgermeister und Gemeinderat
  • Formulierung eines Gemeinderatsantrags zur Stolpersteinverlegung
  • Organisation von Stolperstein-Patenschaften und Präsentation der Rechercheergebnisse vor Sponsorinnen und Sponsoren sowie anderen Stakeholdern
Exkursion ins Stadtarchiv St. Blasien
Exkursion ins Stadtarchiv St. Blasien
Digitale Aufbereitung der Rechercheergebnisse
Digitale Aufbereitung der Rechercheergebnisse

3. Schreibarbeit

4. Stolperstein-Verlegung im Mai 2023

  • Organisation eines offiziellen Empfangs mit allen Projektbeteiligten als Begegnungsformat für die SuS, die Angehörigen der Verfolgten und Menschen aus St. Blasien
  • Organisation einer interreligiösen Andacht, an der die Verfolgten und Angehörigen teilnahmen
  • Öffentliche Präsentation der Lebensläufe und Geschichten der Verfolgten durch die SuS, Vorstellung der Projektarbeit vor der Gemeinde St. Blasien und der Presse
Stolpersteinverlegung mit Redebeiträgen der SuS
Stolpersteinverlegung mit Redebeiträgen der SuS
Interreligiöse Andacht
Interreligiöse Andacht

5. Museumsausstellung „Erinnerungsort St. Blasien. Heimat – Menschen – Schicksale“ von Juli bis Oktober 2023

  • partizipative, multimediale Ausstellung der Kursergebnisse, der bereitgestellten Fotografien, Objektquellen, aber auch ausgewählter Akten und Texte der SuS im Kreismuseum St. Blasien
  • Weiterentwicklung und nachhaltige Verankerung der Rechercheergebnisse und des museumspädagogischen Materials im Schulcurriculum

Mediale Aufbereitung der Museumsausstellung

Mediale Aufbereitung der Museumsausstellung
Mediale Aufbereitung der Museumsausstellung

Das Besondere

Die SuS sollten sich in diesem Projekt nicht nur theoretisch mit Verantwortung in der Erinnerungskultur auseinandersetzen, sondern diese aktiv übernehmen. Sie haben dabei auf vielfache Art und Weise Selbstwirksamkeit erfahren und wurden in ihrem Glauben an die eigene Handlungsfähigkeit gestärkt.

Dabei verbanden sie unter Anleitung ihrer Lehrkräfte „klassische“ mit wissenschaftlich-gestalterischen und nicht zuletzt digitalen Unterrichtselementen. Im Sinne eines produktions- und handlungsorientierten Unterrichts arbeiteten sie öffentlichkeitswirksam und aktiv an der Erinnerungskultur ihres Schulortes mit, recherchierten die Schicksale von Verfolgten aus St. Blasien, präsentierten diese der Öffentlichkeit und der Politik in Form eines digitalen Gedenkbuchs, online abrufbarer Interviews mit Familien der Verfolgten, einer Museumsausstellung, einer Videodokumentation und einer Veröffentlichung in der „Badischen Heimat“. Die Stolpersteinverlegung wurde multimedial und nachhaltig durch innovative Erinnerungsformen gesäumt.

Stolperstein für den Verfolgten Pater Alois Grimm SJ

Stolpersteine für die Verfolgten Gustav, Hulda, Alfred und Gertrude Grumbach

Stolpersteine für die Verfolgten Hugo, Lili und Ellen Grumbach
Stolpersteine für die Verfolgten Gustav, Hulda, Alfred, Hugo, Lili, Gertrude und Ellen Grumbach, für Alex Mendelsohn und für Pater Alois Grimm SJ (Fotos: Tanja Bury).
Die 87-jährige Dodi Fromson aus den USA beim Blick auf die Stolpersteine für ihre Eltern und ihre Schwester
Die 87-jährige Dodi Fromson aus den USA beim Blick auf die Stolpersteine für ihre Eltern und ihre Schwester (Foto: Tanja Bury).

Erfahrungen und Ergebnisse

„Ich habe gelernt, dass es sich lohnt, hart für etwas zu arbeiten und wie wichtig es ist, dass wir die Vergangenheit aufarbeiten. Ich habe gelernt, wie man mit Quellen umgeht und eine Ausarbeitung schreibt, aber auch wie man etwas an die Öffentlichkeit trägt. […] Ich kann viel aus diesem Jahr mitnehmen, vor allem wenn es darum geht, wissenschaftlich zu arbeiten, mit fremden Menschen in ein Gespräch zu treten und zu meiner Arbeit zu stehen, diese zu erklären und sogar öffentlich zu präsentieren.“ (Zitat aus der anonymen Kursevaluation)

Mit dem Projekt boten die Lehrkräfte des Kollegs St. Blasien ihren SuS die Möglichkeit, ihre ganz eigenen Fähigkeiten und Stärken einzubringen – auf einem Gebiet, das sie persönlich interessierte. Unveränderbar waren die Vorgaben des Seminarkurses: Es musste eine wissenschaftspropädeutische Hausarbeit geschrieben und mithilfe eines Steckbriefs vorbereitet und eine Präsentation zu einer wissenschaftlichen Fragestellung vor einer Kommission aus Kurslehrkräften und Mitgliedern der Schulleitung abgehalten werden. Schreiben, Präsentieren, Sprechen, Kommunizieren, Kooperieren, Gestalten und Planen wurden auf unterschiedliche Aufgaben verteilt: Interviews mit Angehörigen von Verfolgten aus St. Blasien; Gespräche mit Projektbeteiligten und -gegnern; schriftliche Gedenkbuch-Einträge für das digitale Gedenkbuch der Stadt St. Blasien; diverse Veröffentlichungen zum Schicksal der Verfolgten aus St. Blasien; Planung und Durchführung einer begleitenden Video-Dokumentation; Radio- und Fernsehinterviews mit dem SWR; Zeitungsinterviews mit der Badischen Zeitung; Konzeption, Durchführung und Eröffnung einer Ausstellung im Kreismuseum; didaktische Begleitung und Führung durch die Ausstellung sowie Vorträge vor dem Gemeinderat, vor Sponsorinnen und Sponsoren sowie auf der Woche der Jüdischen Kultur Waldshut-Tiengen.

Die SuS wurden so befähigt, informierte Entscheidungen zu treffen und verantwortungsbewusst für eine gerechte Weltgesellschaft für aktuelle und zukünftige Generationen zu handeln. Dies erforderte verantwortungsvoll eingesetzte Kreativität, intelligente Lösungen und Weitsicht. Damit leisteten die SuS durch zivilgesellschaftliches Engagement und politisches Handeln einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung. Dadurch, dass sich die SuS mit anderen Identitäten befassten, sich in diese hineinversetzten und sich mit diesen auseinandersetzten, schärften sie ihr Bewusstsein für ihre eigene Identität. Dabei erfuhren sie, dass Vielfalt gesellschaftliche Realität ist und die Identität anderer keine Bedrohung der eigenen Identität bedeutet. Diese Leitperspektive zielte auch auf die Fähigkeit der Gesellschaft zum interkulturellen und interreligiösen Dialog und zum dialogorientierten, friedlichen Umgang mit unterschiedlichen Positionen bzw. Konflikten in internationalen Zusammenhängen ab.

Damit haben die SuS Aufgaben angenommen, die in ihrem Wirkungsgrad weit über das Klassenzimmer hinausgingen. Auf den unterschiedlichsten Ebenen wiederholte sich im Laufe des Kurses immer wieder die Konfrontation mit Informationen, Narrativen und Meinungen, die es mit dem eigenen Repertoire an Informationen, Narrativen und Deutungen in Beziehung zu setzen galt. Das ständige Neuausloten von Erkenntnissen stellte ein Grundprinzip der Arbeit dar. Durch Kooperation und Kommunikation wurden letztlich alle Facetten des menschlichen Handelns in einer partizipativen Informationsgesellschaft geschult.

Aus den Gutachten

„Dieses Projekt zur Erinnerungskultur ist nicht nur eine sinnstiftende Bereicherung für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für die Schule, es hat Außenwirkung auf die Gemeinde und die Nachfahren von verfolgten Juden aus der NS-Zeit. Indem die SuS sich mit verfolgten Menschen, die an ihrem Wohnort lebten, beschäftigten, wurde Identifikation geschaffen und Betroffenheit erzeugt, wie es in einem normalen Geschichtsunterricht nie möglich gewesen wäre. […]“

„Ein realitätsnaher und in der eigenen Umwelt verwurzelter historischer Kontext wurde detailliert, multimedial und unter Einbindung verschiedenster Akteure professionell und lebensnah begreifbar aufgearbeitet sowie der Mitwelt zur Verfügung gestellt. Dabei erfuhren die beteiligten SuS Solidarität und Selbstwirksamkeit.“

Eckdaten

Schule: Kolleg St. Blasien e. V.
Bundesland: Baden-Württemberg
Jahrgangsstufe: 11
Fächer: Geschichte/Seminarkurs