Hinter den Kulissen / 17.07.2024
Frau Bücker, Frau Wegner, wie kam es überhaupt zur Idee dieses projektbasierten Wahlpflichtunterrichts „Grüne Chemie“?
Leonie Bücker: Entscheidend war wohl unsere eigene Motivation. Ich habe mich bereits im Studium mit den Konzepten der Grünen Chemie beschäftigt und mich in meiner Bachelorarbeit an der Humboldt-Universität mit Gewässeranalysen und einer nachhaltigen Reinigung von besonders belasteten Gewässern auseinandergesetzt. Vorrangig ging es um Belastungen durch Schwermetallionen sowie Medikamente und deren Komplexierung im Rahmen einer nachhaltigen Reduktion der Belastung beziehungsweise Reduktion der Kontamination. Alles natürlich entlang der 12 Prinzipien der grünen Chemie.
Nina Wegner: Neben meiner Unterrichtstätigkeit leite ich auch ein Fachseminar, kümmere mich also um die Ausbildung von jungen Chemielehrkräften, die gerade von der Universität kommen oder aus der naturwissenschaftlichen Forschung in das Lehramt quereinsteigen. Dadurch bin ich sehr vernetzt und informiere mich, was sich gerade in der Chemiedidaktik entwickelt, und da sieht man eben schon, dass es einzelne Standorte gibt, die durchaus erste Unterrichtskonzepte oder Materialien für Grüne Chemie entwickelt haben.
Grüne Chemie
Effizienz und Wirtschaftlichkeit galten bis weit in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts als Leitbild der chemischen Industrie. Mit katastrophalen Folgen für die Umwelt. Mit dem Beginn eines neuen Umweltbewusstseins entwickelte sich ein neuer Leitgedanke: Die Grüne Chemie. Dafür lieferten John Warner und Paul Anastas zwölf Prinzipien – wie zum Beispiel: Abfallvermeidung, die Herstellung möglichst sicherer und umweltfreundlicher Chemikalien oder der Einsatz erneuerbarer Rohstoffe -, mit denen chemische Prozesse umweltfreundlicher, sicherer und nachhaltiger gestaltet werden sollen. Die Grüne Chemie ist mittlerweile Bestandteil von Lehre und Forschung und sollte auch Bestandteil des schulischen Lernens werden.
„An unserer Schule herrscht ein innovationsfreudiges Klima“
Aber dann muss man ein solches Konzept noch in den Schulalltag integrieren.
Leonie Bücker: Am Albert-Einstein-Gymnasium ist es möglich, den Wahlpflichtunterricht grundsätzlich projektbasierter zu gestalten. Das ist hier ganz selbstverständlich und wird von allen Seiten, insbesondere von der Schulleitung, unterstützt. Und das ist gerade für die Naturwissenschaften eine Riesenchance. Es braucht dafür aber auch engagierte Lehrkräfte, die projektbasierten Unterricht ausarbeiten und gestalten wollen. Denn das ist ohne zusätzlichen Aufwand nicht möglich, an unserer Schule herrscht ein innovationsfreudiges Klima und speziell im Fachbereich Chemie findet ein anregender Austausch und eine gute Zusammenarbeit im Team statt. Ohne dieses tolle Team und öfters auch Mehrarbeit wäre dieses Projekt nicht möglich.
Ich will da gleich mal einhaken, Sie haben gesagt, es ist schon aufwendig, warum haben Sie sich das angetan?
Leonie Bücker: „Angetan“ ist nicht die richtige Vokabel. Denn grundsätzlich laufen Naturwissenschaften besser, wenn die Schülerinnen und Schüler intrinsisch motiviert sind. Chemie ist schon ein anspruchsvolles Fach, bei dem die Schüler*innen einiges leisten müssen. Man kann Chemie sehr trocken behandeln, man kann aber auch versuchen, die Lernenden in ihrer eigenen Lebenswelt abzuholen und ihnen viele Entscheidungen überlassen. Wenn sich die Schülerinnen und Schüler eingebunden fühlen, dann macht dieser Projektansatz auch viel Spaß.
Entscheidend ist der Grundleitfaden
Und wie entwickeln Sie diesen Unterricht?
Nina Wegner: Wir beide experimentieren gern und uns ist es wichtig, dass Experimentalunterricht stattfindet. Dann haben wir ein ergänzendes Zweitfach, bei mir ist es Geografie, bei Leonie ist es Biologie. Der Aspekt Nachhaltigkeit spielt in all diesen Fächern auch eine große Rolle. Wir können also bereits fächerverbindend arbeiten. Und dann gucken wir zunächst: Was gibt es an Materialien, welche Themen interessieren uns selbst, welche Methoden eignen sich grundsätzlich? Und welche experimentelle Ausstattung gibt es bereits an der Schule? Gewässeranalysen zum Beispiel haben wir auch vorher schon in einem anderen Zusammenhang gemacht, und die dafür notwendigen Gerätschaften sind bereits angeschafft.
Leonie Bücker: Entscheidend ist außerdem ein sich wiederholender Grundleitfaden: Wir suchen Probleme, wir zeigen gern auch Probleme in der Gesellschaft auf. Und dann analysieren die Lernenden: „Was von diesen Problemen betrifft mich eigentlich?“ Dann schauen wir uns die zwölf Prinzipien der Grünen Chemie an und finden gemeinsam heraus, welche Prinzipien nicht erfüllt sind, warum das denn überhaupt ein Problem darstellt und schließlich, wo die potenziellen Stellschrauben sind. Die Lernenden entscheiden dann, an welchen Stellschrauben sie drehen, und wie sie der Problematik begegnen können. Bei der Verunreinigung der Gewässer zum Beispiel. Sie nehmen Wasserproben, bestimmen die Art und den Grad der Belastung, dann entwickeln sie beispielsweise zellulosebasierte Materialien, um das Wasser zu reinigen. Kurzum die Lernenden diskutieren und erproben Optimierungen bei der Vermessung, Behandlung und Entsorgung vor dem Hintergrund ausgewählter Prinzipien wie Abfallvermeidung, ungefährliche Synthese, biologische Abbaubarkeit und Schadstoffreduzierung. Und wenn sie das geschafft haben, können sie einer Firma zum Beispiel eine Filteranlage empfehlen, damit das Grundwasser nicht mehr so belastet wird. Zellulose ist ja wirklich überall, man kann sie aufbereiten, zum Beispiel über Bananenschalen und dann – ganz Low Budget gedacht – diese Bananenschalen mit Lakritz-Farbstoff färben, durch das Wasser ziehen, und dann tatsächlich teilweise die Ionen aus dem Wasser holen und so das Wasser reinigen.
Sie haben bereits verschiedene Wahlpflichtkurse durchgeführt. Wie sieht das Themenspektrum aus?
Leonie Bücker: Das Themenspektrum hängt sehr stark mit der Lerngruppe zusammen und natürlich auch mit der unterrichtenden Lehrkraft, weil das Projekt auch fächerübergreifend angelegt ist. Vor zwei Jahren haben wir uns mit nachhaltiger Kosmetikherstellung und Naturkosmetik auseinandergesetzt, im nächsten Kurs haben die Schülerinnen und Schüler eigenständige Duftanalysen über eine komplexe Wasserdampfdestillation durchgeführt, um dann eigene Parfüms zu entwickeln. Immer mit den Gedanken: Ich gehe selbst in die Natur, ich baue selbst Heilkräuter an, aus denen ich dann ätherische Öle für mein Parfum gewinnen kann und ich kann etwas umweltfreundlich produzieren.
„Das ist die Lebenswelt der Schüler, die man auch abbilden muss“
Und was ist Thema des aktuellen Kurses?
Leonie Bücker: Beim diesjährigen Kurs ging es um die bereits erwähnte Gewässerreinigung, bei dem die Schülerinnen und Schüler am Ende ihren eigenen Wasserfilter gebaut haben. Das Ganze stand für einige Schülerinnen und Schüler unter einem Survival Aspekt, weil das Thema „Wie könnte ich in der Wildnis überleben?“ in vielen Medien, die die Jugendlichen konsumieren, zu diesem Zeitpunkt aktuell war. Und diese Lebenswelt der Lernenden und damit das Interesse dieser sollte stets aufgegriffen werden. Das ist die Lebenswelt der Schüler, die man auch abbilden muss. Und wenn die Lernenden dann überlegen, wie können wir einen Wasserfilter bauen, mit dem ich in dieser Region – zum Beispiel in einem Sumpfschlammgebiet mit Alligatoren – überleben könnte? Mit welcher Kontamination komme ich vor Ort in Berührung? Und was muss der Wasserfilter leisten können? Wie gelingt die Herstellung eines Produkts, welches versucht, so umweltfreundlich wie möglich zu sein? All solche Fragen stellt man sich in diesem Kurs. Dann sind sie tatsächlich sehr motiviert und sehr engagiert.
Wie geht’s weiter?
Leonie Bücker: Die achten Klassen haben gerade Ihren Kurs für das nächste Jahr gewählt. Ich unterrichte einige der Schülerinnen und Schüler auch im Regelunterricht. Sie haben sich das Konzept durchgelesen und erklärt, sie wollen unbedingt das Thema Lebensmittelchemie und Naturkosmetik bearbeiten. Dabei geht es ihnen sowohl um die Molekularküche als auch um Mikroplastik, um Umweltbelastung, um den eigenen Körper und um die Ernährung. Ihnen geht es auch darum, naturbasierte Seife mit Heilkräutern herzustellen, welche beim Eindringen in Gewässer beispielsweise keine Gefahr für Wasserlebewesen darstellt. Alle stehen jetzt kurz vor den Sommerferien und meine 8ter entwickeln Ideen für den Unterricht im kommenden Schuljahr, also das ist eine Art von intrinsischer Motivation, von der die Chemie lebt und die dieses Projekt so wertvoll macht.
Nina Wegner: Und in der Vorbereitung werden wir uns jetzt in den Ferien überlegen, welche fachlichen Aspekte relevant werden und wie wir dies für unsere Schüler:innen fachlich aufbereiten und reduzieren beziehungsweise welches Material es gegebenenfalls bereits gibt. Was können wir den Schülerinnen und Schülern zu Beginn ihrer Recherche an die Hand geben?
Hat dieser Unterricht möglicherweise Auswirkungen auf das spätere Leben der Schülerinnen und Schüler, auf ihrer Berufswahl, auf ihrer Einstellung zur Umwelt, zum Konsum und zur Grünen Chemie?
Nina Wegner: Das ist die Hoffnung. Und das ist auch ein bisschen unsere Motivation, dass man nicht nur Fachwissen der Chemie vermittelt, also mit einem Lehrbuch eine Atombindung von einer Ionenbindung unterscheiden lernt. Ja, die Chemie beschäftigt sich mit den Stoffen und ihrem strukturellen Aufbau, diese fachlichen Aspekte sind ein Teil der Chemie, aber das schreckt auch viele ab. Aber wenn die Schülerinnen und Schüler Problemlösekompetenz erlernen – also ich stehe vor einem Problem, worum geht es dabei, wie recherchiere ich, welches Wissen gibt es schon, wie denke ich dann weiter, wie löse ich ein Problem – dann haben sie sehr, sehr viel gelernt in diesem Kurs. Der trainierte Blick, logische Schlussfolgerungen aus Daten und Fakten zu ziehen und die erworbenen Fähigkeiten, ihren Fragen nachzugehen, zu forschen und zu entwickeln, sind in jeder universitären Fachrichtung, aber auch im privaten Bereich von nicht zu unterschätzendem Wert und werden ihnen zur Lösung anstehender oder zukünftiger Probleme nutzbar sein.
Sie haben auch von fächerübergreifendem Lernen gesprochen und dabei die Fächer Biologie und Geografie erwähnt, arbeiten sie auch mit anderen Fachgebieten zusammen?
Nina Wegner: Ja, in der Einheit zur nachhaltigen Kosmetik zum Beispiel ging es auch darum, das Produkt, das die Schülerinnen und Schüler entwickelt haben, entsprechend zu designen. Und da kam das Fach Kunst mit ins Projekt. Diese Idee kam übrigens von den Schüler:innen, weil sie sehr kunstinteressiert waren.
Der Cornelsen Sonderpreis „Umwelt und Nachhaltigkeit“
Der Cornelsen Sonderpreis „Umwelt und Nachhaltigkeit“ wird seit drei Jahren im Rahmen des Deutschen Lehrkräftepreises verliehen. Er soll diejenigen honorieren, die die wichtige Zukunftsaufgabe Klimaschutz aktiv angehen und das Thema in der Schule präsent machen. Gleichzeitig soll der Sonderpreis auch zeigen, wie breit das Spektrum der Aufgaben ist, die Lehrkräfte heute vermitteln müssen und ihnen dafür besondere Anerkennung zukommen lassen. In diesem Jahr heißen die Preisträgerinnen Leonie Bücker und Nina Wegner. Am Albert-Einstein-Gymnasium in Berlin bieten sie seit zwei Jahren den Wahlpflichtunterricht „Grüne Chemie – für mich, für dich und unsere Zukunft“ an.
„Dieser Preis hat auch schulintern einiges bewirkt“
Und was bedeutet diese Auszeichnung für Sie persönlich?
Leonie Bücker: Es handelt sich um eine hohe Form der Wertschätzung. Die experimentelle Chemie verschlingt im Rahmen von Projekten, wie auch im Regelunterricht, generell sehr viel unserer privaten Zeit. Häufig werden unser Einsatz und unsere Anstrengungen nicht gesehen und wenn man auf diese Weise für die Arbeit, die man leistet, wertgeschätzt wird, dann tut das natürlich gut.
Nina Wegner: Was wir bei dieser Preisverleihung gespürt haben: Es ist eine Wertschätzung gegenüber allen Lehrkräften, die deutlich über dem normalen Arbeitspensum hinaus persönliches Engagement und Arbeitseinsatz zeigen.
Leonie Bücker: Dieser Preis hat auch schulintern einiges bewirkt. Und das liegt daran, dass der Chemiefachbereich hier am Albert-Einstein-Gymnasium durch diese Auszeichnung auf sich aufmerksam gemacht hat. Wir wurden zum Beispiel von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fachbereichen angesprochen, mit denen wir bis dato nicht viel zu tun hatten. Wir haben aktuell eine fächerübergreifende Verknüpfung von Sprache und Chemie, wo es um die nachhaltige Parfumherstellung sowie um die Lektüre des Romans „Das Parfum“ von Patrick Süskind geht. Wir haben auch auf unserer Internetseite betont, dass dieser Preis stellvertretend für den innovativen Unterricht des ganzen Albert-Einstein-Gymnasiums steht. Weil es am Albert-Einstein-Gymnasium noch weitere projektbasierte Angebote gibt, in denen Kolleginnen und Kollegen eine großartige Arbeit leisten. Es ist also eine Wertschätzung für die gesamte Schule.
Zur Person
Leonie Bücker ist Lehrerin für die Fächer Chemie und Biologie sowie Fachleiterin Chemie am Albert-Einstein-Gymnasium in Berlin Neukölln. Die Förderung von naturwissenschaftlichen Interessen bei Schüler*innen, Teamarbeit im Fachbereich und die Stärkung des naturwissenschaftlichen Profils der Schule liegen ihr besonders am Herzen.
Nina Wegner beschreitet nun als Fachbereichsleiterin Naturwissenschaften am Wilhelm-von-Siemens-Gymnasium Berlin neue Wege und wird die Idee des projektbasierten Wahlpflichtunterrichts zum Thema „Grüne Chemie“ an der neuen Schule weitertragen und weiterentwickeln. Nina Wegner ist Lehrerin für die Fächer Geografie und Chemie und bildet in ihrem Fachseminar Chemie angehende Chemielehrkräfte aus.