Schulleiter Micha Pallesche aus Karlsruhe nahm Ende April 2024 am International Summit of the Teaching Profession (ISTP) in Singapur teil. Als Preisträger des Deutschen Lehrkräftepreises 2021 in der Kategorie „Vorbildliche Schulleitung“ durfte er die Rolle des Learning Professional in der deutschen Delegation übernehmen, die dieses Jahr von KMK-Präsidentin Christine Streichert-Clivot angeführt wurde.
Der ISTP versammelt jedes Jahr Fachleute aus verschiedenen Ländern, darunter Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Praxis, der Politik und von Verbänden, um die aktuellen Herausforderungen im Lehrberuf zu diskutieren. Die Teilnehmenden erhalten zudem Einblicke in die Schulen des Gastgeberlandes. In unserem Interview teilt Micha Pallesche seine Eindrücke aus dem PISA-Vorzeigeland Singapur. Zwei Eigenschaften haben ihn dabei besonders beeindruckt.
DLP: Mit etwas zeitlichem Abstand betrachtet: Welche Eindrücke von der Reise zum ISTP in Singapur sind Ihnen noch besonders lebhaft in Erinnerung?
Pallesche: Ich bin zutiefst beeindruckt davon, wie Schule in Singapur interpretiert und verstanden wird. Da ist zuerst das Verständnis von Basiskompetenzen – Lesen, Schreiben, Rechnen. Das wird sehr früh vermittelt, aber dann in Kombination mit Projektarbeit an realen Problemstellungen, oftmals mit dem Ziel, der Gemeinschaft zu dienen. Diese gute Verbindung zu schaffen, fand ich bemerkenswert.
Das andere ist das Thema Purpose, also Sinnhaftigkeit. In allen Schulen, die ich besucht habe, stellte man sich immer die Fragen: Warum lernen wir das? Warum ist es persönlich wichtig? Warum ist es für die Gesellschaft wichtig? Welchen Impact hat das auf die Gesellschaft?
DLP: Hat Sie das überrascht?
Pallesche: Ja, vor allem, weil man ja mit asiatischen Ländern oftmals Schulsysteme mit Drill verbindet. Ich weiß nicht, ob man das verallgemeinern kann, aber natürlich spürt man dort auch in der Gesellschaft eine große Leistungsbereitschaft. Wenn wir von einem klassischen Leistungsbegriff ausgehen, wollen dort alle Menschen etwas erreichen – für sich selbst, aber auch für die Gesellschaft. Das ist spürbar. Aber es war mir nicht klar, dass das so stringent in den Schulen verankert ist und dass es von ministerieller Seite so vorgelebt wird.
DLP: Wie haben Sie die Einstellung der Menschen zur Schule wahrgenommen?
Pallesche: In Singapur haben Lehrkräfte ein unglaublich gutes Standing in der Gesellschaft. Ich habe den Kultusminister von Singapur gefragt, warum das so ist, und er sagte, dass das auf die ausgezeichnete Fortbildung der Lehrkräfte zurückzuführen ist. In Singapur müssen Lehrkräfte verbindlich Fortbildungen besuchen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Elternarbeit. Eltern aus bildungsfernen Haushalten werden kostenlos Kurse angeboten, ähnlich wie Volkshochschulkurse. Ziel ist es, dass Eltern den Sinn hinter dem Lernen erkennen und selbst erleben, wie viel Spaß Weiterbildung machen kann. Das erhöht das Verständnis für die Bedeutung von Lernen und warum das eigene Kind lernen sollte.
Lehrkräfte müssen sich verbindlich fortbilden
DLP: Also hat die Gesellschaft dort eine andere Haltung gegenüber Schule und Lehrkräften?
Pallesche: Definitiv ja. Die Gesellschaft ist im Aufbruch und möchte Veränderungen herbeiführen. Schulen spielen dabei eine zentrale Rolle. Gleichzeitig muss man auch sagen, dass sich das Schulsystem Singapurs nicht eins zu eins auf unser Schulsystem übertragbar lässt, weil es auch eine Ressourcenfrage ist. In Singapur haben Lehrkräfte in der Regel zwischen 15 und 20 Stunden Unterrichtsverpflichtung und die restliche Zeit steht für Schulentwicklung, Teambesprechungen, Unterrichtsentwicklung usw. zur Verfügung. Das trägt natürlich auch dazu bei, eine Schule besser gestalten zu können.
DLP: Gibt es Eigenschaften aus Singapur, die Sie auf Ihre Schule (Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe) übertragen möchten?
Pallesche: Absolut. Im Kollegium haben wir bereits beschlossen, die Basiskompetenzen ebenfalls so früh wie möglich in den Blick zu nehmen. Ab dem kommenden Schuljahr wollen wir eine saubere Diagnose entwickeln und auch KI-Software nutzen, um adaptive Lernsettings für Schülerinnen und Schüler in den Kernfächern Mathe und Deutsch anzubieten.
DLP: Was nehmen Sie noch mit?
Pallesche: Die Frage nach der Sinnhaftigkeit sollten wir aufgreifen. Mache ich das, weil es im Lehrbuch steht, oder weil es sinnvoll ist?
Ich habe eine Schule besucht, die in jeder Stunde nach der Einführung des Themas einen kurzen Break machte. Zum Beispiel, eine Musiklehrerin führte einen chinesischen Tanz ein, dann gab es eine Minute Reflexion: Warum machen wir das? Was bedeutet das für mich? Eine Schülerin sagte, wir lernen andere Kulturen kennen und tanzen gemeinsam – das hat mit Gemeinschaftlichkeit zu tun.
Fokus auf Basiskompetenzen und Sinnhaftigkeit
DLP: Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit (BNE) im Schulalltag Singapurs?
Pallesche: Bildung für nachhaltige Entwicklung ist in Singapur sehr breit verankert. Das Thema Ressourcenknappheit ist allgegenwärtig. Die Stadt selbst sieht sich als Green City mit begrünten Fassaden und innovativen Lösungen zur Energieeinsparung. Eine Schule hat zum Beispiel an einem Projektvormittag im nahegelegenen Nationalpark gearbeitet, um reale Problemstellungen zu bearbeiten und BNE zu integrieren.
DLP: Stichwort: Schule öffnen.
Pallesche: Wir machen das auch schon viel, aber es ist wichtig, sich dessen noch einmal bewusst zu werden. Eine Aussage des Kultusministers aus Singapur fand ich besonders spannend: „We want for our students that not the school is their world, but the world is their school.“ Das heißt, die Schulen zu öffnen, sich mit dem Umfeld zu vernetzen und reale Fragestellungen in den Unterricht einzubeziehen. Außerschulisches Lernen und die Öffnung der Schule hin zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler sollen viel präsenter werden.
DLP: Haben Sie da auch Parallelen zu den Lerninseln in Karlsruhe entdeckt?
Pallesche: Ja, absolut. Karlsruhe ist zwar nicht Singapur, weder von der Größe noch von der Struktur her, aber es gibt dennoch interessante Parallelen. Singapur als Stadtstaat hat ähnliche Herausforderungen und Möglichkeiten wie wir in Karlsruhe. Das Thema, dass die Schule nicht mehr der alleinige Lernort ist, sondern dass das Quartier und die Gemeinschaft mit einbezogen werden müssen, ist bei beiden Konzepten zentral. Bildung für nachhaltige Entwicklung als Querschnittsaufgabe mitzudenken und Schule partizipativ zu gestalten, ist in beiden Ansätzen wichtig.
„We want for our students that not the school is their world, but the world is their school.“
DLP: Sprechen wir über Künstliche Intelligenz (KI). Wie gehen die Schulen in Singapur damit um?
Pallesche: Das Thema KI ist sehr präsent. Viele Schulen haben bereits eigene Curricula entwickelt, wie sie mit KI umgehen wollen, und setzen diese aktiv ein. Besonders beeindruckend fand ich das Verständnis und die Einstellung zur KI. Es wurde oft betont, dass in Zukunft nicht die Menschen durch KI ersetzt werden, sondern die Menschen, die nicht lernen, wie man mit KI zusammenarbeitet. Es geht darum, KI effektiv zu nutzen und gut zu prompten, um die eigenen Ziele zu erreichen. Diese Haltung ist in den Schulen angekommen, und die Lehrkräfte wurden sehr schnell und umfassend fortgebildet. KI ist dort ein gängiges und integrales Thema im Schulalltag.
DLP: Gibt es etwas, das Singapur auch vom deutschen Schulsystem übernehmen sollte?
Pallesche: In Deutschland gibt es Best Practice Schulen, die möglicherweise schon einen Schritt weiter sind, wenn es um Projekte und projektartiges Arbeiten geht. Das ist jedoch nur eine Einschätzung basierend auf einem sehr kleinen Beobachtungsfenster.
DLP: Weiß man in Singapur um die Stärke des eigenen Bildungssystems? Oder wurden Sie auch mal nach einem Tipp aus Deutschland gefragt?
Pallesche: Nein, tatsächlich weiß man um die eigene Stärke und ist auch stolz darauf. Das deutsche Schulsystem wurde beim ISTP nicht stark nachgefragt. Es waren eher Estland, die skandinavischen Länder und Kanada, die als Vorbilder dienten. Diese Länder wurden auf unterschiedlichsten Ebenen häufig als Referenz herangezogen.
DLP: Wie schätzen Sie diese Reise und die Eindrücke, die Sie dabei gesammelt haben, für sich ganz persönlich ein?
Pallesche: Es war ein toller Einblick in dieses Land, in ein Schulsystem, das in Bezug auf lebenslanges Lernen und PISA-Ergebnisse sehr erfolgreich ist. Die Möglichkeit zu haben, in einer kleinen Delegation als einziger Teaching Professional aus Deutschland dabei zu sein und sich auf einer hochspannenden Ebene mit Vertreterinnen und Vertretern aus 20 anderen Ländern auszutauschen, war unglaublich wertvoll. Für diese Chance bin ich der Heraeus Bildungsstiftung und dem Deutschen Philologenverband sehr dankbar.
Micha Pallesche hat seine Reise zum ISTP nach Singapur auch sehr ausführlich auf LinkedIn begleitet.
Micha Pallesche | LinkedIn